Anonym
Bildnis eines unbekannten Herrn, um 1855
Anonym
Bildnis einer unbekannten Dame, um 1855
Salzpapier, koloriert, 27,5 x 22,3 cm bzw. 30,5 x 25,5 cm (Foto), 52,4 x 48,2 cm (Rahmen), Originalrahmung
Provenienz: Graz
Historische Foto-Sammlung, HFS-0001 (Herr), HFS-0002 (Dame)

Das Porträt der Dame in blauem Kleid wurde 2010 im Grazer Antiquitätenhandel erworben, gemeinsam mit seinem Gegenstück, dem Bildnis eines unbekannten Herrn.
Die Bilder, beide in Originalpassepartout und –rahmen, stammen aus einer Grazer Familie. Über die Dargestellten ist nichts bekannt, ebenso wie über den Fotografen sowie den genauen Zeitpunkt und die Umstände der Entstehung der beiden Bildnisse.
Beide Rahmen wurden am 7.9.1893 auf der rückseitigen Holzabdeckung mit einer handschriftlichen Widmung versehen, die sich allerdings für die Identifizierung der dargestellten Personen bisher nicht als zielführend erwiesen hat: „Gehört Nichte Bertha Lingen. Sie soll es sehr ehren“ bzw. „Gehört Berta Lingen“.
In geöffnetem Zustand werden Format und Technik der kolorierten Vorlagen – in beiden Fällen handelt es sich um Salzpapiere – erkennbar und man sieht, dass die nachträgliche Überarbeitung mit Aquarell- bzw. Temperafarbe weitgehend auf den ovalen Ausschnitt des Passepartouts beschränkt ist, an wenigen Stellen geht sie darüber hinaus.

Beide Porträtierten sitzen an einem Tisch, über den ein geblümtes Tuch gelegt ist. Ihre Haltungen sind seitenverkehrt konzipiert: während die Dame ihren rechten Ellbogen auf dem Tisch, der rechts von ihr steht, aufstützt und die Hand an die Wange führt, hat der Herr den linken Unterarm auf den Tisch, der links steht, gelegt. Sie sitzt annähernd frontal und hat Kopf und Blick leicht nach links aus dem Bild gewendet, er sitzt nach links gewendet und schaut in die Kamera.
In beiden Porträts sind die modischen Details von Kleidung, Frisur und Schmuck mithilfe der nachträglichen Kolorierung sehr genau ausgeführt, vor allem im Damenporträt, das stärker übermalt ist. Das geblümte Tischtuch ist im Porträt der Dame durchscheinend rotbraun koloriert, was eine harmonische Wirkung mit dem blauen Kleid ergibt, und im Porträt des Herrn opak dunkelgrün, sodass das Blumenmuster fast nicht zu erkennen ist. Abgesehen vom Tisch gibt es keine weiteren Staffagestücke oder Attribute; die Bildnisse sind als Kniestücke angelegt und nehmen die Bildfläche weitgehend ein.

Fotografische Porträts dieser Art – im vorliegenden Fall aufgrund der Mode um die Mitte der 1850er Jahre zu datieren – stehen in der Tradition der Bildnismalerei des Biedermeiers und veranschaulichen die enge Verbindung, die zwischen der Malerei und der Fotografie in dieser Zeit besteht.
Seit dem Klassizismus geht es in der Porträtmalerei um die realistische Erfassung der individuellen Erscheinung der porträtierten Person. Diesem Anspruch kann die Fotografie seit ihrer Erfindung 1839 genügen und sie übernimmt nahtlos die ästhetischen und kompositorischen Grundlagen der Malerei.
Die Fotografen der Frühzeit waren häufig Maler und die Porträtisten unter ihnen haben sich das neue Medium Fotografie rasch zu Eigen gemacht. So entwickelte sich das fotografierte Porträt bald zu einer Konkurrenz zum gemalten, musste allerdings, um mit diesem tatsächlich konkurrieren zu können, farbig überarbeitet, d.h. nachträglich übermalt werden. Die Übermalung war oft so exakt und intensiv, dass das darunter liegende Foto schwer erkennbar ist, oft nur im Bereich des Gesichts, speziell in der Augenpartie.
Die fotografischen Porträts der ersten 20 Jahre sind meist solche von sitzenden Personen. Das hat stilistisch-formale Gründe, aber auch aufnahmetechnische. Die zu Porträtierenden mussten aufgrund von Belichtungszeiten von anfangs bis zu mehreren Sekunden lange still halten und dabei war das Aufstützen eines Armes auf einem Tisch, einer Säule oder Balustrade eine Hilfe. Nicht selten verbarg sich hinter dem Körper der Porträtierten unsichtbar eine mechanische Stütze für Kopf und Oberkörper in der Art eines verstellbaren Stativs.

DIE FOTOGRAFIE DES MONATS | Nr. 06
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