Im Frühjahr 1857 beginnt Maria „Mimi“ Gräfin Attems ein Fotoalbum anzulegen. Auf die erste Seite setzt sie die Worte „Appartenant à Mimi Comtesse d’ Attems. Commencer [sic] au printemps de l’an 1857.“ Mimi ist zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt und wird drei Jahre später heiraten.
Eine Fotografie in dem Album zeigt ein Mädchen von etwa fünf Jahren, auf einem Sessel sitzend, ein schwarz-weißes Kaninchen im Arm. Es ist Ernestine „Tina“ Malowetz von Malowitz und Kossorz, Mimis Cousine, eine Tochter einer der Schwestern ihres Vaters.
Das annähernd quadratische, in rotes Leder gebundene Album trägt auf dem Titel eine gräfliche Krone und die Initialen „M. A.“ (Maria Attems). Über seine Entstehungsumstände ist nichts Konkretes bekannt, man kann jedoch annehmen, dass Maria Gräfin Attems die Fotografien selbst gesammelt und in dem Album arrangiert hat, als Erinnerung an Familienangehörige, Freunde und einige prominente Persönlichkeiten. Wie sie selbst sagt, beginnt sie damit im Frühling 1857 und sie legt das Album chronologisch an. Sie fügt ausschließlich Porträt-Fotografien ein, einundvierzig an der Zahl, welche sie handschriftlich mit einer Erklärung versieht, um wen es sich bei dem jeweiligen Bildnis handelt und meist mit einer Datierung. Die frühesten Aufnahmen sind 1856, die spätesten 1860 entstanden.
Maria Antonia Josepha Aloisia Henriette Gräfin Attems wird am 1. 7. 1839 als älteste Tochter von Heinrich Graf Attems (geb. 1813 in Graz, gest. 1888 in Ehrenhausen) und Aloysia Gräfin Attems, geb. Freiin Wančzura von Rzehnitz und Brachfeld (geb. 1816, gest. 1887 in Ehrenhausen) in Časlau (Tschaslau / Čáslav) in Böhmen geboren. Sie hat drei jüngere Geschwister: Hugo (geb. 1844), Friederike (geb. 1846) und Caroline (geb. 1848). Ihr Vater, k. k. Geheimer Rat und Kämmerer, ist zur Zeit der Entstehung des Albums Vice-Präsident und Leiter der Statthalterei Pressburg (Bratislava, Ungarn). Am 1. 2. 1860 heiratet Maria Gräfin Attems in Pressburg Eugen von Latinovics de Borsód (1835–1863), k. k. Kämmerer und Rittmeister im Ulanen-Regiment „Alexander II., Kaiser von Russland“ Nr. 11. Die beiden haben eine Tochter, Gisela, geboren am 21. 12. 1860 in Bonyhád. Eugen von Latinovics de Borsód stirbt bereits 1863. Maria von Latinovics de Borsód geb. Gräfin Attems stirbt am 29. 3. 1917 in Graz.
Das Fotoalbum ist so konzipiert, dass pro rechter Seite ein Porträtfoto im Format zwischen ca. 14 cm x 10 cm und 17 cm x 13 cm platziert ist; an vier Stellen gibt es rechts und links je ein Foto und ein Foto liegt lose im Album. Eine Seite zeigt zwei kleinere Aufnahmen im Carte-de-Visite-Format. Die handschriftlichen Erklärungen befinden sich meist auf den freien linken Seiten, manchmal auch unter dem Foto.
Die „Familien-Galerie“ beginnt mit einem Porträtfoto von Mimis Mutter, das Mimi selbst als „sehr schlecht getroffen“ (bez.) empfindet, gefolgt von einem Bildnis ihres Vaters. Als nächste folgen „Großmama Attems, geb. G[rä]f[i]n Thurn, gestorben den 7ten August 1848“ und „Großpapa Attems, gestorben den 7ten Mai 1854“. Diese beiden Aufnahmen sind Reproduktionen von gemalten Bildnissen, Gegenstücke, deren Künstler nicht genannt wird. Daran schließen sich Porträtaufnahmen von Onkeln und Tanten aus der Familie Attems an, alle Geschwister von Mimis Vater: „Onkel Wilhelm“, „Tante Luise“, „Onkel Alexander“, „Tante Ernestine verehelichte Baronin Schönnermark“, „Tante Oktavia verehelichte Baronin Malowetz“, „Onkel Cäsar“ und „Onkel Muki“. Die handschriftlichen Anmerkungen enthalten – das gilt auch für alle weiter angeführten Porträts – meist über die hier zitierte Bezeichnung hinaus noch weitere Kurzinformationen, z.B. zum Verwandtschaftsverhältnis, und meist Datierungen.
Den nächststehenden Familienmitgliedern der Eltern- und Großelterngeneration aus der Familie Attems folgen Verwandte aus der Familie von Mimis Mutter (Freiherren Wančzura von Rzehnitz und Brachfeld): „Tante Caroline“, die Schwester ihrer Mutter, „Onkel [Major] Viktor von Mylius“, Carolines Ehemann und „Cousin Viktor“, beider Sohn; weiter „Großonkel Georg Baron La-Motte“, „Vetter Franz Baron La-Motte“, „Cousine Jenny Baronin La-Motte“, „Cousine Marie Baronin La-Motte“ und „Cousine Resi Baronin La-Motte“. Weitere Porträts zeigen: Mimis Schwestern „Frieda und Carla“ (gemeinsam auf einem Foto) und ihren „Bruder Hugo“ sowie Mitglieder der Familie von Malowetz (die Familie von Mimis Tante Oktavia geb. Gräfin Attems), Oktavias Ehemann „Onkel Zdenko Baron Malowetz“ sowie deren Kinder „Cousine Tina Malowetz“ und „Vetter Toni Baron Malowetz“; dazu kommen „Großtante Jeanette Gräfin Thurn“, Schwester einer der beiden Großmütter Mimis väterlicherseits; „Vetter Heinrich Graf Attems [–Petzenstein]“ und „Vetter Josef Graf Attems [–Petzenstein]“.
Zwei Ganzfigurenbilder im Carte-de-Visite-Format, die einzigen Ausnahmen in einem Kleinformat (bez. „MA? ME? 1ten May 1859 Pressburg“), zeigen mit hoher Wahrscheinlichkeit Maria „Mimi“ Gräfin Attems selbst und ihren zukünftiger Mann Eugen von Latinovics de Borsód. Das angeführte Datum könnte das Verlobungsdatum sein. Die Heirat der beiden fand am 1. 2. 1860 in Pressburg statt. Das nächste Foto zeigt Mimis Schwiegervater Lajos von Latinovics de Borsód.
Auf den restlichen Fotografien sind zu sehen: Mimis „Freundin Sandra Neuhold“, „Baronin Ida Schlosser“, „Kitty de Neuhold“, „Baron Maurice d‘ Ottenfels“, „Gräfinn [sic] Esterhazy verm. mit G[ra]f Khevenhüller“, „Sobieska Gräfinn [sic] Stuart“, „Mon petit ami Charles Stahl“, „General [August Freiherr von, Feldmarschalleutnant, vermutlich] Jochmus“, „Toni Dobrénzky [General Anton Dobrženský von Dobrženitz]“ sowie ein unbekannter junger Mann (nicht bez.); ein zweites Porträt der Mutter von Maria Gräfin Attems, auf dem sie ein Fotoalbum in Händen hält, liegt lose im Album.
Aus dem Fotoalbum wird als „aktuelle Fotografie“ das Porträtfoto von Ernestine „Tina“ Malowetz vorgestellt. Es zeigt Tina als kleines Mädchen von etwa fünf Jahren.
Ernestine Aloysia Leopoldine Huberta Freiin Malowetz von Malowitz und Kossorz wird am 18. 2. 1852 als Tochter von Zdenko Emanuel Freiherr Malowetz von Malowitz und Kossorz, k. k. Kämmerer (geb. 1820 in Prag, gest. 1889 in Prag), und Maria Octavia Freiin Malowetz von Malowitz und Kossorz geb. Gräfin Attems (geb. 1818 in Graz, gest. 1889 in Prag) geboren.
Die Freiherren der Malowetz von Malowitz gehören zu den ältesten Adelsgeschlechtern Böhmens. Tinas Vater, aus der Linie der Malowetz von Malowitz und Kossorz (auch Kosorz / Kosoř), ist Landesgerichtsrat in Pressburg. Tina hat zwei Brüder: Anton (geb. 1846) und Ottokar Heinrich (geb. 1858). Am 11. 9 .1893 heiratet sie in Prag den griechisch-korfiotischen Novellisten Konstantin Etienne Graf Théotoky (als Schriftsteller Konstantinos Theotokis, 1872-1923), mit dem sie eine Tochter, Ernestine „Tinerl“ (geb. 1895), hat und auf Korfu lebt. Ernestine Gräfin Théotoky, geb. Freiin Malowetz stirbt am 2. 12. 1929 in Wien.1
Das „Ma cousine Tina Malowetz“ bezeichnete Porträt ist in ein Passepartout mit ovalem Ausschnitt montiert, das einen Prägestempel des Fotografen trägt: „F[ranz]. Abrahamovits“.
Der Fotograf hat sein Modell auf einem Sessel Platz nehmen lassen und lässt es annähernd frontal in die Kamera blicken. Seinen besonderen Charme erhält das einfühlsame Kinderbildnis durch die Anwesenheit des schwarz-weißen Kaninchens, welches das Mädchen liebevoll, wie selbstverständlich, im Arm hält.
Tiere im Fotoatelier, als mit abgebildete Begleiter der zu porträtierenden Personen aber auch als alleinig Porträtierte, vor allem Hunde, auch Katzen, sind ab den 1860er Jahre keine Seltenheit. In den 1850er Jahren, als die Belichtungszeit für eine Porträtaufnahme noch mehrere Sekunden betragen konnte, sind solche Aufnahmen jedoch eine fototechnische Leistung und eine Rarität. In dem Album gibt es eine weitere Aufnahme, ebenfalls von Abrahamovits, die das Modell, eine Freundin Mimis, mit einem Tiergefährten zeigt, in diesem Fall ist es eine schwarze Katze.
Das Porträt von Tina Malowetz mit ihrem Häschen ist ein typisches Beispiel für die Art und Weise, wie fotografische Porträts in der Frühzeit der Fotografie, d. h. in den 1840er und 1850er Jahren, konzipiert und ausgeführt sind und ein besonders reizvolles dazu.
Fotografische Porträts der ersten zwanzig Jahre nach der „Erfindung“ der Fotografie 1839 orientieren sich an der Porträtkunst des Biedermeier, setzen deren Tradition quasi fort. Die Fotografen der Frühzeit sind nicht selten ursprünglich Maler, die sich dem neuen Medium Fotografie zuwenden. Frühe Porträts sind oft nachträglich malerisch und/oder zeichnerisch überarbeitet, was auch für die Fotografien im Attems-Album charakteristisch ist. Eine eigene Bildsprache entwickelt sich in der Atelierfotografie ab den 1860er Jahren, als sich die Fototechnik entscheidend weiterentwickelt und es zunehmend populärer und für breitere Schichten der Bevölkerung finanziell leistbar wird, sich fotografieren zu lassen.
Von dem Autor des Porträts von Tina Malowetz, Franz Abrahamovits, stammen weitere 16 Aufnahmen in dem Album. Alle sind signiert, d.h. entweder auf dem Foto oder auf dem Passepartout mit einem Namens-Prägestempel versehen und alle sind als Salzpapiere ausgeführt. Arbeiten in dieser frühesten Negativ-Positiv-Technik sind von der materiellen Beschaffenheit des Papiers her gut geeignet für Porträtaufnahmen, weil sie eine „malerische“ weichere Oberfläche besitzen als spätere Fotopapiere, die prägnanter und „schärfer“ wirken.
Franz Abrahamovits hat sein Atelier in Pressburg in der Zichy-Strasse (vormals Lange Gasse / Hosszú utca) Nr. 77 im 3. Stock, wo er bis 1868 arbeitet. Auch er ist ursprünglich akademischer Maler und beschäftigt sich ab 1850 mit der Fotografie, speziell mit der Porträtfotografie. In einer Ausgabe der Wiener Zeitung aus dem Jahr 1853 wird die hohe künstlerische Qualität seiner Porträts gelobt und erwähnt, dass seine Arbeiten um die Hälfte billiger seien als die von Wiener Fotografen.2
Abrahamovits‘ Aufnahmen in dem Attems-Album sind in ihrer Komposition klar und reduziert, sämtliche Porträts sind als Kniestücke und fast immer in Sitzposition konzipiert unter sparsamster Verwendung von Meublage und Staffagestücken. Fast immer beschränkt er sich auf den Sessel, auf dem das Modell sitzt und ein Beistelltischchen mit einer geblümten Tischdecke, das links oder rechts im Bild steht und als Auflagefläche für einen Arm des/der Porträtierten dient. Dieses kompositorische Element hat häufig auch technische Gründe, zumal die Belichtungszeit bei fotografischen Aufnahmen in den 1850er Jahren, wie erwähnt, mehrere Sekunden betragen konnte und der Fotograf seinem Modell auf diese Weise das Stillhalten etwas erleichterte.
Stets wählt Abrahamovits für das Passepartout einen ovalen Bildausschnitt, in den er das Bildnis stellt. Aus diesen Elementen ergibt sich eine sehr konsequente charakteristische Bildsprache. Über die näheren Entstehungsumstände der Porträts ist nichts bekannt, jedenfalls sind sie, folgt man den Datierungen, 1856 bzw. 1857 entstanden.
Von den restlichen 23 Fotografien in dem Album – bis auf zwei Ausnahmen alle ebenfalls Salzpapiere – sind nur in zwei Fällen die Fotografen bekannt: Das Porträt von Heinrich Graf Attems–Petzenstein (1834–1909) aus dem Jahr 1859 stammt von Franz K. Strezek (1809-1885, in Wien tätig um 1840 bis 1885), das Bildnis von „Charles Stahl“, entstanden am 8. November 1858 in Pressburg von Carl Skutta (um 1826–1899). Alle übrigen sind anonym.
1 Im Besitz einer Grazer Familie (Verwandtschaft mit Tina Malowetz über die Urgroßeltern-Generation) befindet sich eine Fotografie im Cabinetformat aus dem Jahr 1897, welche Tina Comtesse Théotoky mit ihrer Tochter Tinerl zeigt (Fotograf: B. Borri e Figlio, Corfu, Foto bez. „Tina und Tinerl Théotoky, 1897“)
2 Für Informationen zum Fotografen Franz / Ferenc Abrahamovits ist Herrn Dr. Stefan Holcik im Musem der Stadt Bratislava sowie Herrn Dr. Andras Sipos im Stadtarchiv Budapest herzlich zu danken.
F[ranz / Ferenc]. Abrahamovits (auch Abrahamovics), Pressburg
Porträt Ernestine „Tina“ Malowetz (1852-1919) mit einem Kaninchen im Arm, um 1857 bezeichnet „Ma cousine Tina Malowetz“, Foto in ovalem Passepartout, Prägestempel
„F. Abrahamovits“ auf dem Passepartout; Salzpapier,
14,4 cm x 10,1 cm.
Aufnahme aus dem Familienalbum von Maria Gräfin Attems, später verehelichte Latinovics de Borsód, 1856–1860
Album bezeichnet auf der ersten Seite „Appartenant à Mimi Comtesse d’ Attems. Commencer [sic] au printemps de l’an 1857“; 41 Fotografien von Mitgliedern der Familie Attems, von Verwandten und Freunden, entstanden zwischen 1856 und 1860; handschriftliche Bezeichnungen und z. T. Datierungen; Bildautoren: F[ranz / Ferenc]. Abrahamovits (auch Abrahamovics, Pressburg / Bratislava), Carl Skutta (um 1826–1899, Wiener Neustadt), Franz K. Strezek (1809–1885 Wien) sowie anonyme Autoren; Salzpapiere, einige gefirnisst, teilweise Gelatinefirniss, zwei Fotos Albuminpapier; Einband Album rotes Leder mit Goldprägung, gräfliche Krone, Initialen „M. A.“, Messingschließe, 32 cm x 28,5 cm x 3 cm