Richard Gerstenberger (1877-1929)
Porträt Gerda Normann im Abendkleid, 1919
Gelatine-Entwicklungspapier, getont, ohne Barytschicht, 23 x 16 cm (Karton 30,5 x 22,5 cm); bezeichnet Untersatzkarton rechts unten „R. Gerstenberger Graz 19“, bezeichnet Rückseite „Normann“ und „Frl. Normann“
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1953 erscheint bei Leykam in Graz eine Broschüre zum fünfzigjährigen Jubiläum des Grazer Fotoateliers Gerstenberger. Als Herausgeber fungiert das Photohaus selbst, der Autor des Textes bleibt ungenannt, die einleitenden Worte stammen vom damaligen Direktor der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien, Hofrat Prof. Luis Kuhn. In seinem kurzen Einleitungstext attestiert Kuhn dem Atelier Gerstenberger eine maßgebliche Rolle beim Aufstieg der Berufsfotografie, nicht allein in Österreich, und er betont die Kontinuität und Tradition, welche über zwei Generationen die Führung der Firma Gerstenberger auszeichnen.
Die vorgestellte Fotografie datiert aus dem Jahr 1919 und stammt von Richard Gerstenberger (4.12.1877–10.7.1929), der zu dieser Zeit gemeinsam mit seiner Frau Klara (auch Clara, 4.11.1871–8.2.1938) das Photohaus geführt hat.
Zu sehen ist die Operettensängerin Gerda Normann in einem Ganzfigurenporträt vor einem gemalten Architekturhintergrund. Sie trägt ein schulterfreies mit Pailletten besticktes Abendkleid mit einer transparenten Schleppe und einen Haarschmuck mit weißen Federn. Ihre Pose mit dem leichten Hüftschwung, resultierend aus dem Einsatz von Stand- und Spielbein, den in die Hüften gestützten bloßen Armen und dem nach links geneigten Kopf verleiht der Erscheinung einen Hauch von Laszivität. Diese Wirkung wird durch den flüchtig geöffneten Mund und den direkten Blick des Modells in die Kamera noch verstärkt und ein weiteres Mal gesteigert durch die Perspektive der Aufnahme. „Fräulein Normann“ – so lautet die Bezeichnung auf der Rückseite des Fotos – ist nach der neuesten Mode gekleidet und frisiert.
Nach der Tragödie des Ersten Weltkriegs, der in vielerlei Hinsicht, vor allem politisch und gesellschaftlich, eine Zäsur darstellt, verändert sich die Damenmode grundlegend.
Während des Krieges war an Extravaganzen und Glamour nicht zu denken gewesen. Die Frauen hatten die ihnen zugefallenen Rollen zu erfüllen und ihre Kleidung war durch Zweckmäßigkeit, Einfachheit und Sparsamkeit gekennzeichnet.
Umso stärker ist nach der überstandenen Katastrophe das Bedürfnis der Menschen, das Leben zu genießen und sich zu amüsieren. Oper, Theater, Varieté, Tanz, Musik und Kino erleben einen enormen Aufschwung. Die Frauen beginnen allmählich wieder, sich für Mode zu interessieren.
Vor allem in der Abendmode äußert sich eine neue Lebensfreude in auffällig gemusterten Stoffen mit Glitzereffekt und raffinierten Schnitten – fantasievoll, verführerisch, extravagant, exotisch.
Das Outfit, das Gerda Normann auf dem Foto trägt, vereinigt eine Reihe von Elementen, die um 1920 für die Abendtoiletten der Damen charakteristisch sind: gerade Schnittführung, Betonung der Hüften, schulterfreies Dekolleté, flache Büste, Rocksaum oberhalb der Knöchel, auffällig gemusterter, kostbar anmutender Stoff, Kurzhaarfrisur mit ondulierten Löckchen und Feder-Haarschmuck.
Gerstenbergers Foto kann als eine Mischung aus Porträt- und Modefotografie angesehen werden, wiewohl die Grenzen zwischen Mode- und Porträtfotografie zu dieser Zeit allgemein als fließend zu bezeichnen sind. Es wirkt, auch wenn in diesem Fall wohl kein Auftrag für eine Modeaufnahme vorgelegen hat, wie ein Modebild und es ist zugleich Zeitbild. Es spiegelt, dies wird in Aufnahmestil und Pose spürbar, ein weibliches Lebensgefühl wider, in dem das sich zunehmend entwickelnde und verändernde Selbstverständnis der Frau mitschwingt.
Schwerpunkt ist im Atelier Gerstenberger von Anbeginn an die Porträtfotografie. Die Bandbreite reicht von den üblichen Atelieraufnahmen in Standardarrangements und -ausarbeitung bis zu Arbeiten mit künstlerischem Anspruch, wie im vorliegenden Fall.
Für die Ausarbeitung seines Bildnisses von Gerda Normann hat Richard Gerstenberger eine fotografische Technik gewählt, die der Aufnahme einen malerischen Touch verleiht. Die Technik des Gelatine-Entwicklungspapiers ohne Barytschicht reduziert die Schärfe des fotografischen Bildes, das hier braun getont ist. Dies bringt Gerstenberger in die Nähe zur Kunstfotografie, die in Graz seit 1909 durch die Mitglieder der Kunstphotographischen Vereinigung, allen voran Hugo Haluschka und Maximilian von Karnitschnigg, getragen wird und internationale Anerkennung erfährt. Gerstenbergers Foto hat Ausstellungsformat, ist wie eine Kunstfotografie präsentiert, datiert und signiert.
Die Porträtierte, die Operettensängerin Gerda Normann, war vor ihrem Engagement in Graz 1908/09 Mitglied des Schauspiel- und Opernensembles in Bamberg, 1909/10 am Theater in Pilsen und 1910/11 in Olmütz, als 1. Operettensoubrette, engagiert. Danach spielte sie in der Saison 1913/14 am Rembrandt-Theater in Amsterdam und 1915/16 war sie Mitglied des Berliner Operetten-Tournee-Ensembles, das in etlichen deutschen Städten gastierte.
1917/18 kam sie nach Graz und trat am Grazer Stadttheater als Soubrette in Operetten auf. Anhand von Theaterzetteln ist sie bis Sommer 1921 in Graz in diversen Rollen nachweisbar, danach verliert sich ihre Spur.
In der Porträtsammlung „Schauspieler“ des Steiermärkischen Landesarchivs findet sich eine zweite Porträtaufnahme Richard Gerstenbergers von Gerda Normann, ein Kniestück im Pelzmantel, ebenfalls signiert und 1918 datiert. Es ist in derselben Technik ausgeführt wie das Bildnis im Abendkleid und annähernd gleich groß wie dieses.
Das Fotoatelier Gerstenberger existiert in Graz von 1903 bis 1971, also 68 Jahre lang.
Die Eröffnung des ersten Ateliers in der Annenstraße erfolgt im Juli 1903 und am 31. März 1971 beendet Elisabeth Gruber geb. Gerstenberger ihre Tätigkeit im Atelier in der Girardigasse.
Ursprünglich ist es ein „Fräulein Clara Nußberger“, das im Juli 1903 vom Fotografen Hans Schullerbauer (geb. 1858) dessen Fotoatelier im Hof des Stradiot’schen Stiftungshaues in Graz, Annenstraße 16, in Untermiete übernimmt. Über ihre fotografische Ausbildung ist nichts bekannt, auch nicht wann und wie sie nach Graz gekommen ist. Im August 1903 mietet sie von Schullerbauer auch noch dessen Wohnung im 1. Stock des Hauses. Bis Februar 1904 scheint Clara Nußberger in diversen Hausakten (Steiermärkisches Landesarchiv, Graz) als alleinige Mieterin von Fotoatelier und Wohnung auf. Im März 1904 taucht in diesen Akten erstmals der Name Gerstenberger auf, als nämlich Clara Nußberger dem Steiermärkischen Landesausschuss ihre Verehelichung mit dem Fotografen Richard Gerstenberger bekannt gibt. Von Richard Gerstenberger weiß man, dass er seine Ausbildung zum Fotografen in Deutschland absolvierte und 1903 nach Graz kam. Die kirchliche Trauung von „Karl Richard Gerstenberger, Photograph, von Dresden in Sachsen gebürtig (4.12.1877) mit Bertha Clara Nußberger, Photographen-Ateliers-Inhaberin, von Engen im Großherzogtum Baden gebürtig (4.11.1871)“, hatte bereits am 24. November 1903, in der Pfarre Graz-Mariahilf stattgefunden. Am 9. August 1904 wird die gemeinsame Tochter Elisabeth Clara Martha geboren. Von März 1904 an ist es Richard Gerstenberger, auf den mittlerweile das Mietverhältnis übertragen worden ist, der die Korrespondenzen mit dem Landesausschuss führt (Mietangelegenheiten, Umbau- und Zubau-Ansuchen betreffend das Fotoatelier und deren Erledigungen, Investitionen etc.). Der Briefverkehr, in den seit 1912 auch wieder Klara Gerstenberger involviert ist, setzt sich bis zur Jahresmitte 1916 fort. Klara Gerstenberger ist ab 1912 wieder gleichberechtigte Mieterin. 1915 werden dem Ehepaar Gerstenberger seitens des Landesausschusses auf ihr Ansuchen hin größere Umbauaktivitäten bewilligt, die im April 1916 ihren Abschluss finden. Im September 1916 erfolgt dann die Vermietung und bald darauf der Verkauf des Fotoateliers an Friedrich Erben (1876-1949), Inhaber einer Photographischen Kunstanstalt in Graz, Annenstraße 7.
Richard und Klara Gerstenberger übersiedeln 1916 mit Atelier und Wohnung in die Girardigasse 4, wo sie das Fotoatelier des renommierten Grazer Hoffotografen Leopold Bude (1840-1907), welches seine Witwe Anna bis zu ihrem Tod im Jahr 1913 als Witwenbetrieb weitergeführt hatte und das seitdem leer stand, übernehmen. Der Standort des Ateliers Gerstenberger bleibt bis zu seiner Schließung 1971 derselbe. Eigentümerin des Hauses Girardigasse 4 ist seit 1918 Klara Gerstenberger und in ihrer Nachfolge bis 1978 ihre Tochter Elisabeth Gruber geb. Gerstenberger.
In der anfangs zitierten Broschüre zum fünfzigjährigen Bestandsjubiläum des Photohauses Gerstenberger aus dem Jahr 1953 werden die Eckpunkte der Geschichte des Hauses skizziert und die Erfüllung der an den Familienbetrieb gestellten Aufgaben über die ersten 50 Jahre hin charakterisiert. Ergänzt wird die Firmengeschichte durch einen kleinen Text zur Kulturgeschichte der Fotografie seit ihrer Erfindung und durch Porträtfotos der Gründer Richard und Klara Gerstenberger sowie durch einige Fotografien des Ateliers und der Laborräume in der Girardigasse.
Weitere Daten, bis zur Schließung im Jahr 1971, konnten in Grazer Archiven recherchiert werden bzw. sind Werbeaufdrucken auf einigen erhaltenen Briefpapieren und auf Fotorückseiten zu entnehmen. Demnach war es Richard und Klara Gerstenberger rasch gelungen, sich in ihrem Atelier in der Annenstraße einen Kundenstock aufzubauen. In Werbeaufdrucken ihres Ateliers preisen sie die Vielfalt ihrer Leistungen und des Angebotes für die Kunden an, u.a.: „Kunstanstalt ‚Union‘, Spezialhaus für Vergrößerungen, Malereien, Retouche und Photographische Drucke aller Papiere. Erstklassige Arbeiten in Kohle- und Gummidruck, Aquarell und Pastell. Papiernegative, färbig getonte Vergrößerungen in Rötel, Blau, Grün, Sepia, Silbergrau, Braunviollett, Blutrot. Schnellste Lieferung“ etc. Zu dieser Zeit unterhält das Atelier Gerstenberger Filialen in Marburg, Burggasse 28 und in Linz, Landstraße 17 und Altstadt 17. Zeitweise läuft die Firma auch unter dem Namen „Atelier Elvira“ und bietet sich als „Spezialhaus für Gruppen, Landschaften und Interieurs an, mit einer eigenen Anstalt für Vergrößerungen, der Möglichkeit, Aufnahmen bei elektrischem Licht anzufertigen und die Platten jahrelang für Nachbestellungen aufzubewahren“.
Als 1916, mitten im Krieg, die Übersiedlung in die Girardigasse erfolgt, muss, in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit, ein Neuanfang stattfinden, was auch diesmal rasch gelingt. Bald zählt das Atelier Gerstenberger wieder namhafte Persönlichkeiten wie Fürstbischof Ferdinand Stanislaus Pawlikowski, Rudolf Hans Bartsch, Bürgermeister Vinzenz Muchitsch u.a. zu seinen Kunden, erfreut sich steigender Beliebtheit und ist für die Qualität seiner Porträts bekannt.
Gegen Ende seines Lebens, 1925, gründet Richard Gerstenberger den Fachverband der Österreichischen Berufsfotografen, übernimmt Funktionen in Verbänden und Interessensvertretungen und publiziert in Zeitschriften Texte zu einschlägigen Themen.
Am 10.7.1929 stirbt Richard Gerstenberger. Witwe und Tochter übernehmen die Leitung und führen das Atelier gemeinsam weiter bis neun Jahre später, am 8.2.1938, Klara Gerstenberger stirbt. Unter der nunmehr alleinigen Leitung von Elisabeth Gerstenberger, die am 12.8.1940 heiratet und fortan Elisabeth Gruber heißt – wenngleich man auf sie auch nach ihrer Verehelichung immer wieder als Elisabeth Gerstenberger stößt – wird der Betrieb baulich und organisatorisch umgestaltet, auf den neuesten Stand der Technik gebracht und der Tätigkeitsbereich um die Sparten Industrie-, Gewerbe- und Werbefotografie erweitert. Auch die Ausarbeitungswerkstätte für Amateure wird, dem Trend der Zeit entsprechend, ausgebaut.
1953 findet das 50jährige Geschäftsjubiläum statt. 1971 legt Elisabeth Gruber-Gerstenberger das Fotografengewerbe zurück, stellt den Handel mit Fotoapparaten und Fotozubehör ein und schließt das Geschäft. Nachfolger in der Girardigasse 4 wird, sowohl was das Atelier als auch den Fotohandel betrifft, Eugen Mayer.
Nach der Schließung des Geschäftes übergibt Elisabeth Gruber-Gerstenberger das gesamte Negativarchiv mit tausenden Glasplatten und Planfilmen dem Bild- und Tonarchiv des Landesmuseums Joanneum in Graz (heute Multimediale Sammlungen des Universalmuseums Joanneum).