Fotografien im Visit(karten)format: Porträts, Sammelbilder, Rückseiten
Die „Fotografie des Monats“ stellt diesmal kein spezielles Foto vor, sondern eine Erscheinungsform der Fotografie: Fotografien im Visit(karten)format.
Die Idee, ein Porträtfoto in Miniaturgröße auf einen Karton zu kleben und anstelle einer Visitenkarte mit Namensaufdruck zu verwenden oder Visitenkarten mit einem Foto zu ergänzen, nahmen mehrere Personen für sich in Anspruch.
Der Pariser Berufsfotograf André Adolphe Eugène Disdéri (1819-1889) griff diese Idee auf und ließ sich 1854 die Herstellung von Porträtfotografien im Format einer Visitenkarte patentieren. Er war nicht der erste und einzige Fotograf, der solche Fotografien angefertigt hat, aber er war es, der sie bekannt gemacht hat. So gilt Disdéri als „Erfinder“ des sog. Visit(karten)bildes (auch: Visit(karten)portät, Visitfoto, Visit(karten)format, Carte de Visite etc.).
Die erste Kamera, welche die Erzeugung von mehreren Visitkartenbildern in einem Arbeitsgang ermöglichte, wurde 1860 in Paris entwickelt. Sie war mit vier Objektiven und einer verschiebbaren Kassette ausgestattet, sodass auf einem Glasplattennegativ - der sog. „Ganzen Platte“ im Format 8 x 10 inch / 20,3 x 25,4 cm - zweimal hintereinander vier Aufnahmen belichtet werden konnten. Der 1:1 Abzug vom Negativ (1851 bis ca. 1870 sog. Nasse Kollodium-Platten, danach auch Gelatine-Trockenplatten) wurde in acht Einzelfotos im Format ca. 90 x 55 mm zerschnitten. Diese zunächst auf Albuminpapier, ab ca. 1880 auch auf Gelatine-Auskopierpapier und anderen Papieren, hergestellten Abzüge wurden anschließend auf ca. 105 x 65 mm große Untersatzkartons kaschiert.
In beinahe allen professionellen Ateliers der Zeit waren sog. „Visitenkartenapparate“, „Multiplikator-Kameras“ mit einem bis vier Objektiven und andere Spezialkameras, im Einsatz. Sie erleichterten die Arbeit des Fotografen und machten so die Produktion von Porträtaufnahmen, nach denen ab Anfang der 1860er Jahre immer mehr Nachfrage bestand, kostengünstiger und dadurch für die Kunden einigermaßen erschwinglich.
Davor waren fotografische Porträts, die es seit der Erfindung der Fotografie 1839 in verschiedenen Ausführungen gab, zwar billiger als gemalte Bildnisse, aber aufgrund ihres doch noch hohen Preises nur einer wohlhabenden Käuferschicht vorbehalten. Zudem waren bei den fotografischen Verfahren der Frühzeit, den sog. „direkten Verfahren“, der Daguerreotypie, der Ambro-, Panno- und Ferrotypie, die Fotografien Unikate, d.h. sie konnten nicht vervielfältigt werden. Bei der Kalo- bzw. Talbotypie, dem ersten Negativ-Positiv-Verfahren, war eine Vervielfältigung aufwendig und daher entsprechend kostspielig, ebenso etwas später die Herstellung von größeren Albuminabzügen von Nassen Platten.
Erst die Entwicklung des Visitkartenformates, das sich in der Atelierfotografie rasch als (erstes) Standardformat durchsetzte, in Kombination mit der Nassen Platte als Negativ und dem Albuminabzug als Positiv vereinfachte und verbilligte die Herstellung von Fotografien wesentlich und machte beliebig viele Abzüge von ein und demselben Negativ möglich. Dies war soz. die technische Voraussetzung für die Popularisierung und eine erste Demokratisierung der Fotografie in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als der Wunsch nach dem Abbild der eigenen Person vor allem in bürgerlichen Kreisen groß war. Endlich wollte und konnte man mit dem Adel gleichziehen, der sich Porträts schon von jeher leisten konnte.
Die 1860er und 1870er Jahre waren eine Blütezeit der professionellen Porträtfotografie. Die Zahl der Fotoateliers nahm in den 1860er Jahren in den Städten sprunghaft zu. Die Visitkartenbilder erfreuten sich so großer Beliebtheit, dass 1860 ein zeitgenössischer Autor sogar von einer „Visitenkartenepedemie“ in Wien spricht und Helmut Gernsheim, ein Pionier der Fotogeschichtsschreibung, für das Phänomen der massenhaften Herstellung und Verbreitung dieser Art von Porträtfotografie den Terminus „Kartomanie“ verwendet.
In der Tat entwickelte sich eine wahre Sammelleidenschaft: Visitkartenbilder von sich selbst, solche von Verwandten und Bekannten sowie Fotografien von berühmten Persönlichkeiten, von Kunstwerken und Sehenswürdigkeiten, die man kaufen konnte, wurden gesammelt, verschenkt, ausgetauscht, verschickt und in Einsteckalben aufbewahrt. Für die Alben, die meist die Form eines in Leder gebundenen Buches hatten, entwickelte sich eine eigene Industrie mit wechselnden Moden (auf das Thema Fotoalben wird noch im Rahmen einer der zukünftigen „Fotografien des Monats“ zurückzukommen sein).
In den meisten adeligen und bürgerlichen Häusern wurden solche Fotoalben angelegt, für die Familie, aber auch für Besucher. Sie enthielten die wichtigsten Lebensstationen und Altersstufen von Familienmitgliedern mehrerer Generationen - Taufe, Erstkommunion, Firmung, Konfirmation, Militärdienst, Heirat, Ehestand, Familienleben, Beruf, Freizeit, ja sogar Tod - und wurden so zu einem wichtigen Aufzeichnungsmedium der eigenen Familiengeschichte. Zugleich wird anhand dieser privaten Bildchroniken deutlich, welche die Anlässe waren, die die Menschen dazu bewegten, zum Fotografen zu gehen und sich porträtieren zu lassen.
Eine spezielle Bedeutung kommt den Rückseiten der Untersatzkartons zu, auf die die Fotos aufgeklebt wurden. Sie waren ein wichtiger Werbeträger für den Fotografen und sind heute fotogeschichtlich-dokumentarisch von Interesse, beispielsweise bei der Datierung einer Fotografie. In den ersten Jahren findet man, wenn überhaupt, auf den Rückseiten der Kartons nur kleine Papieretiketten oder Aufdrucke mit spärlichen Angaben zu Namen und Adresse des Fotografen, bisweilen auch dessen Namenszug. In der Folge werden sie immer detailreicher und aufwendiger gestaltet. Sie enthalten zusätzliche Informationen zum Fotografen bzw. zum Atelier, weisen auf Ausstellungsbeteiligungen hin, auf erhaltene Medaillen, Preise und Titel und sind mannigfaltig verziert.
Das Interesse zukünftiger Kundinnen und Kunden am Abbild der eigenen Person in Form eines Visitkartenporträts wurde von den Fotografen durch die Herstellung und den Vertrieb von Fotografien berühmter Persönlichkeiten geweckt und geschickt lanciert. Die Ateliers waren daran interessiert, für ihre Porträtaufnahmen Mitglieder von Herrscherhäusern, Angehörige von Adelsfamilien, prominente Künstler und andere Berühmtheiten als „Modelle“ zu gewinnen. Solche Aufnahmen lagen in den Ateliers auf und wurden einerseits von den Kunden gesammelt, andererseits wurden sie von diesen als Anregung für eigene Porträts genommen. So findet man in den Fotoalben dieser Zeit häufig Familienbilder neben Fotos prominenter Zeitgenossen und neben Reproduktionen von Kunstwerken, bisweilen auch neben Landschaftsaufnahmen und Städtebildern.
Die Art und Weise, wie die Fotografen ihre Kundinnen und Kunden porträtierten, d.h. ob sie sie als Ganzfigur in einem detailreich gestalteten Ambiente „in Szene setzten“ oder ob sie in einem Brustbild versuchten, auf die individuellen Züge und das Wesen ihres Vis-à-vis einzugehen, ist von verschiedenen Faktoren abhängig: von der Kreativität des Fotografen, von den Wünschen der Kundschaft, von Modetrends, die sich bald international herausgebildet hatten, aber auch von kamera- und objektivtechnischen Vorgaben und Entwicklungen. Technische und stilistische Anleitungen und Empfehlungen, wie dies bestmöglich zu geschehen hätte und Hinweise darauf, welche Fehler vermieden werden sollten, wurden in zeitgenössischen Handbüchern und Fachzeitschriften in großer Zahl publiziert.
Die 1860er Jahre sind vom Ganzfigurenporträt bestimmt, vom Auftritt in der Kulisse samt mannigfaltiger Staffagestücke und Accessoires und von der repräsentativen Pose.
Ab den 1870er Jahren taucht das Brustbild häufiger auf und wird schließlich zur vorherrschenden Darstellungsweise. Auch im Brustbild gibt es wechselnde Moden in der Ausführung der Aufnahmen, wie z.B. die Vignette oder das Caméebild.
Das Visitkartenformat bleibt bis zum ersten Weltkrieg in Verwendung, wird jedoch ab den 1880er Jahren zunehmend von neuen Formaten verdrängt. Schon 1867 war, von England kommend, als zweites Standardformat das etwas größere „Cabinetformat“ hinzugekommen.
Die enorme Nachfrage nach Porträtfotos und deren massenhafte Erzeugung haben in der Atelierfotografie dieser Zeit teilweise zu einer gewissen Routine in der Arbeit und in der Folge zu stereotypen Darstellungsweisen geführt. Dies ist der Grund dafür, dass den Visitkartenporträts nicht selten der ästhetische und künstlerische Wert abgesprochen wird. Dieses negative Urteil trifft teilweise, aber gewiss nicht auf die Visitkartenfotografie als Phänomen an sich zu. Unabhängig von der Beantwortung dieser Frage kann und muss der Wert dieser Bildnisse – gerade auch resultierend aus der großen Menge des erhaltenen Bildmaterials – jedenfalls im zeit-, sozial- und kunstgeschichtlichen Kontext gesehen werden.
Einen nahezu lückenlosen Einblick in die Entwicklung der Porträtfotografie dieser Zeit bieten, soz. stellvertretend für die Situation der Atelierfotografie an sich, die Kundenbücher des Grazer Fotografen Leopold Bude (1840-1907), in denen zwischen 1863 und 1881 annähernd 40.000 Porträtaufträge, meist mit eingeklebten Fotos belegt, verzeichnet worden sind (Steiermärkisches Landesarchiv, Nachlass Bude, siehe die „Fotografie des Monats“ Jänner 2012).
In den Bildbeständen des Steiermärkischen Landesarchivs befindet sich ein großer Bestand an Fotografien im Visitkartenformat, dies vor allem in den drei großen Bildersammlungen, der Porträtsammlung, der historischen Bildersammlung und der Ortsbildersammlung. Darüber hinaus beherbergen weitere Sammlungsteile, vor allem Familienarchive, Bildbestände, die für die aktuelle Fragestellung von Interesse, aber fotohistorisch erst zu erforschen sind.